Sensorische Integrationstherapie (SI) – Wirkt die überhaupt?

von Angela Nacke
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Die SI-Therapie ist eine mögliche therapeutische Interventionsform, die eingesetzt wird bei Kindern und Erwachsenen, die sensorische Verarbeitungsstörungen aufweisen, aber ist dieser Therapieansatz auch wirksam?

Der Begriff „Sensory Integration Dysfunction“ wurde erstmal von Jean A. Ayres in den 60ziger Jahren geprägt. Jean A. Ayres war Ergotherapeutin, Psychologin und Neurowissenschaftlerin. Sie untersuchte den Einfluss von sensorischer Verarbeitung bzw. sensorischen Verarbeitungsstörungen auf das Lernen, die emotionalen Befindlichkeit und ganz allgemein auf die kindliche Entwicklung

Dieses ursprünglich von Jean A. Ayres entwickelte Konzept der Sensorischen Integrationsstörung und der Sensorischen Integrationstherapie beruhte auf theoretischen Annahmen, die dem heutigen Verständnis von Entwicklung und auch dem neurologischen Kenntnisstand kaum noch entsprechen. Kritisiert wurde und wird vor allem die Idee einer hierarchisch angeordneten Entwicklung, in der zunächst die Verarbeitung basaler Körperinformationen möglich sein muss, bevor höhere Funktionen, wie die visuelle Wahrnehmung oder kognitive Fähigkeiten sich entwickeln können.

Im heutigen SI-Konzept wird nicht mehr von einer hierarchischen Entwicklung ausgegangen, und SI-Störungen werden auch nicht primär als zu behandelnde Funktionsstörungen angesehen. Im Zentrum stehen die Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die für die Bewältigung des Alltags wesentlich sind. Stehen diese Alltagsprobleme im Zusammenhang mit sensorischen Verarbeitungsstörungen, ist ein sensorisch-integrativer Therapieansatz sinnvoll.

Im Folgenden werden die wesentlichen Veränderungen im Zusammenhang mit dem SI-Konzept der letzten Jahre zusammengefasst.

Diagnose / Störungsbilder der SI

Zur Erfassung von sensorischen Verarbeitungsstörungen werden die entsprechenden Assessments eingesetzt. Neu liegt seit 2017 die deutsche Fassung des Sensory Profile 2 von W. Dunn vor.

Seit 2013 gibt es die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). Es handelt sich hierbei um das richtungsweisende psychiatrische Klassifikationssystem, welches weltweit eine zentrale Rolle bei der Definition von psychischen Erkrankungen spielt. In der aktuellen Ausgabe wird nun erstmalig die sensorische Hyper- oder Hyporeaktivität als ein Symptom bei einer Autismus-Spektrum-Störung definiert. Diese Änderung im DSM-5 führt seitens der SI zu einem verstärkten Forschungsinteresse hinsichtlich der Wirkung der SI-Therapie bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen. Aus diesem Grund liegen jetzt Wirksamkeitsnachweise vor allem bei dieser Diagnose vor (siehe unten). Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich diese positiven Ergebnisse auch auf andere Diagnosen übertragen lassen.

Im DC:0-5 (Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early Childhood, 2016) werden sensorische Verarbeitungsstörungen als Störungsbild in der frühen Kindheit (0-5 Jahre) aufgeführt.

In den AWMF Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind und Vorschulalter (2015) wird die Diagnose Regulationsstörung mit Störung der sensorischen Verarbeitung beschrieben und assoziierte Therapien (Ergo- und Physiotherapie) sowie Methoden in Anlehnung an die Sensorische Integrationstherapie empfohlen.

Auswirkungen von sensorischen Verarbeitungsstörungen im Alltag

Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen zeigen Schwierigkeiten in der Selbstversorgung, haben weniger soziale Kompetenzen, sind mehr auf die Unterstützung ihrer Bezugspersonen angewiesen und haben Schwierigkeiten bei Aktivitäten gleichaltriger Kinder zu partizipieren (Armstrong et al, 2013).

Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen zeigen bei Alltagshandlungen Schwierigkeiten sowohl bei den motorischen als auch bei den prozessbezogenen Fertigkeiten (White et al., 2007).

Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen zeigen deutliche Auffälligkeiten in ihrem Spielverhalten, dabei ist zu beachten, das Spiel eine primäre Betätigung von Kindern ist (Watts et al., 2014). SI-Therapie hat einen positiven Einfluss auf ihr Spielverhalten (Watts et al., 2014).

Neurobiologie

Es gibt Fortschritte hinsichtlich neurobiologischer Erklärungsansätze. Es ist davon auszugehen, dass bei einer sensorischen Verarbeitungsstörung funktionelle und strukturelle Störungen im Regelkreis bzw. der dynamischen Interaktion zwischen Kortex, Basalganglien und Kleinhirn vorliegen (Koziol et al., 2011). Zudem konnten Owen et al. (2013) veränderte Faserverläufe der weissen Substanz im ZNS bei Kindern mit sensorischen Verarbeitungsstörungen nachweisen.

Wirksamkeit der SI-Therapie

Der amerikanische Ergotherapie-Verband - The American Occupational Therapy Association (AOTA) hat 2018 auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes Guidelines zur Therapie von Klienten mit Sensorischen Verarbeitungsstörungen veröffentlicht. Unter anderem können aufgrund der starken Evidenz folgende Statements abgegeben werden:

  • SI-Therapie ist sinnvoll um individuelle Ziele von Klienten mit Autismus-Spektrum-Störungen zu erreichen, sowie Verbesserung auf den Ebenen der Funktion und Partizipation zu erzielen.

  • SI-Therapie verringert die zu leistende Unterstützung durch Bezugspersonen, verbessert das Sozialverhalten der Klienten und reduziert autistische Verhaltensweisen.

  • Ein Coaching der Eltern auf Grundlage des SI-Ansatzes reduziert elterlichen Stress und verbessert das kindliche Verhalten

  • Der Verband weist darauf hin, dass für eine SI-Therapie Kriterien definiert sind, die in einer SI-Therapie enthalten sein sollen.

Im Jahr 2017 revidierte die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin ihre sehr kritische Stellungnahme von 2002 und kommt nun unter anderem zu der Aussage, dass die aktuelle SI-Therapie eine von mehreren Konzepten der Ergotherapie ist und bei Klienten eingesetzt werden kann, wenn die klinische Symptomatik mit Beeinträchtigung motorischer und psychosozialer Funktionen im Alltag das Bestehen von sensorischen Verarbeitungsstörungen wahrscheinlich macht.


 

Zusammengefasst kann die eingangs gestellte Frage. Wirkt SI-Therapie mit einem „Ja“ beantwortet werden. Wichtig ist der Einsatz von normierten Assessment um feststellen zu können, ob eine sensorische Verarbeitungsstörung vorliegt und ob diese zu einer Beeinträchtigung des Kindes im häuslichen, schulischen und sozialen Umfeld führt.

Klare Wirksamkeitsnachweise liegen für die Sensorische Integrationstherapie im vor allem im Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen vor. Es kann angenommen werden, dass sich diese Ergebnisse auch auf andere Entwicklungsstörungen übertragen lassen. Hier besteht eindeutig weiterer Forschungsbedarf.

Literatur

Armstrong, Dayle C.; Redman-Bentley, Donna; Wardell, Mary (2013): Differences in function among children with sensory processing disorders, physical disabilities, and typical development. In: Pediatric physical therapy : the official publication of the Section on Pediatrics of the American Physical Therapy Association 25 (3), S. 315–321. DOI: 10.1097/PEP.0b013e3182980cd4.

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) (2015): Leitlinie Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind und Vorschulalter. Hg. v. AWMF. Online verfügbar unter https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-041.html, zuletzt geprüft am 29.11.2018.

Diagnostic and statistical manual of mental disorders. DSM-5 (2013). 5th ed. Arlington, Va.: American Psychiatric Association.

Dunn, W. (2017): Sensory Profile 2. Hallbergmoos: Pearson.

Koziol, Leonard F.; Budding, Deborah Ely; Chidekel, Dana (2011): Sensory integration, sensory processing, and sensory modulation disorders: putative functional neuroanatomic underpinnings. In: Cerebellum (London, England) 10 (4), S. 770–792. DOI: 10.1007/s12311-011-0288-8.

Owen, Julia P.; Marco, Elysa J.; Desai, Shivani; Fourie, Emily; Harris, Julia; Hill, Susanna S. et al. (2013): Abnormal white matter microstructure in children with sensory processing disorders. In: NeuroImage. Clinical 2, S. 844–853. DOI: 10.1016/j.nicl.2013.06.009.

Watling, R.; Miller Kuhaneck, H.; Parham, L., D.; Schaaf, R. C. (2018): Occupational Therapy Practice Guidelines for Children and Youth With Challenges in Sensory Integration and Sensory Processing.

Watts, Tara; Stagnitti, Karen; Brown, Ted (2014): Relationship between play and sensory processing: a systematic review. In: The American journal of occupational therapy : official publication of the American Occupational Therapy Association 68 (2), e37-46. DOI: 10.5014/ajot.2014.009787.

White, B. P.; Mulligan, S.; Merrill, K.; Wright, J. (2007): An Examination of the Relationships Between Motor and Process Skills and Scores on the Sensory Profile. In: The American journal of occupational therapy : official publication of the American Occupational Therapy Association 61 (2), S. 154–160. DOI: 10.5014/ajot.61.2.154.

Zero to Three, National Center for Infants Toddlers and Families (2016): DC: 0-5. Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and early childhood. Washington, DC: Zero to Three



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